Am elften Jahr war Henri, als er mitgenommen wurde auf die große Reise des Königs Karl des Neunten durch Frankreich. Die Königinmutter Katharina fand, daß das ganze Königreich ihren Sohn endlich zu sehen bekommen müßte, und auch der erste Prinz von Geblüt, der Henri von Navarra war, müßte in seinem Gefolge überall gezeigt werden, ein Protestant und doch nur ein Vasall. Wer durchkreuzte wieder einmal die Pläne der klugen Dicken? Oder glaubte wenigstens sie zu durchkreuzen? Jeanne d’Albret; plötzlich erschien sie. In eine Stadt, wo der Hof sich grade aufhielt, zog sie ein wie eine selbständige Fürstin, mit dreihundert Reitern und nicht weniger als acht Pastoren.

Sofort überfiel sie Madame Catherine mit lauter unbefriedigten und stürmischen Forderungen. Sie ließ sich nur die Zeit, mit ihrem Sohn zu beten. Ihren Sohn hatte sie ihrer guten Freundin überlassen als Pfand der Verständigung; statt dessen verbot Montluc in Bearn das Predigen, und etwas noch Schlimmeres sollte bevorstehen, eine Zusammenkunft Katharinas mit Philipp dem Zweiten von Spanien, dem Dämon des Südens und Erzfeind der Religion. Jeanne verlangte die Wahrheit, Jeanne forderte ihr Recht.

Niemand konnte Verträge gleichgültiger finden als Katharina, sobald sie keinen Nutzen mehr brachten. Sie lachte nach ihrer Art in sich hinein. ‹Meine gute Freundin, jetzt sind Sie hier und ich habe Sie, das hat mir am meisten am Herzen gelegen!›

So war es wirklich, denn Philipp hatte sie wissen lassen, bevor er seine Gesandten auf die andere Seite der Pyrenäen schickte, müßte die Königin von Navarra aus der Gegend verschwinden. Daher erreichte Jeanne nichts weiter als etwas Geld zum Leben für ihre Reiter und Pastoren, damit mußte sie sich wieder in die Grafschaft Vendôme zurückziehen, wie vor zwei Jahren. Die Reise des Hofes aber ging nach Süden.

Jeanne verzieh es sich nicht, daß sie in eine Falle geraten war. Ihr Sohn schlief eines Nachts zu ebener Erde im Gasthof eines Ortes, dessen Schloß zu klein gewesen war für die ganze Gesellschaft. Plötzlich sprang er auf. Glas hatte geklirrt, und jemand war auf den Fußboden gefallen. Henri stürzte sich mit aller Kraft auf den Mann, solange er noch lag, und rief dabei laut um Hilfe. Lichter und Leute erschienen, der Mann wurde übel zugerichtet. Als Henri ihn sehen konnte, erkannte er ihn und schwieg bestürzt. Auf einmal verstand er, wer ihn geschickt hatte, und wozu. Aber er hütete sich, irgend jemandem einzugestehen, daß seine liebe Mutter ihn hatte entführen lassen wollen. Auch sein Erzieher Beauvois verriet sich nie. Beide blickten einander manchmal traurig an, der Ältere schüttelte den Kopf, indessen der Knabe ihn senkte.

Ein Ort in der Provence heißt Salon, dort wohnte damals ein merkwürdiger Mann, und Henri von Navarra lernte ihn kennen. Es war früh am Morgen; der Elfjährige stand nackt im Zimmer, grade sollte der Diener ihm sein Hemd reichen, da trat Beauvois ein und mit ihm dieser Mann. ‹Was will Beauvois›, denkt Henri. ‹Ist das ein Arzt? Ich bin nicht krank.›

Indessen fragt der Mann: «Wo ist der Prinz?» Hält fünf Schritte vor ihm und sieht ihn nicht, obwohl er ganz nackt ist! Beauvois beantwortet die Frage nicht, sondern wartet aufmerksam — scheu, hätte man gesagt, wenn Beauvois scheu sein könnte. Der Diener seinerseits verzieht sich in eine Ecke und nimmt das Hemd mit. Der Knabe fühlt sich sonderbar allein, entkleidet, vollkommen sichtbar, auch die Fehler, auch das Schlechte. Er beginnt zu fürchten, das Ereignis werde darauf hinauslaufen, daß er die Peitsche bekommt. O alter Mann, so hager, eisengrau von Haaren und die Wangen hohl, so sieh mich endlich und dann geh wieder!

Längst hält der Mann ihn im Auge, durchforscht die Gestalt und das kleine Menschengesicht; das weiß nur niemand, sein eigener Blick ist verhängt und kommt von weiter her als aus fünf Schritten Abstand. Außerdem lenkt er ab, durch unbegründete Bewegungen, springt zurück, stößt Beauvois an, murmelt Entschuldigungen, hört überhaupt nicht auf zu murmeln, viel zu spät aber fällt ihm ein, sich zu verbeugen. Er schwenkt dabei seinen großen Hut, und aus Ungeschicklichkeit schleudert er ihn fort, dem Prinzen vor die Füße. Hier tut Henri etwas, das nicht seinem Rang entspricht. Er weiß nicht warum, er hebt den Hut auf und bringt ihn dem Mann, einem Mann, der höchstens ein Arzt, aber für einen Arzt zu ungeschickt ist.

Da stehen sie nahe voreinander, der Hagere sieht hinunter, der Kleine erhebt angestrengt das Gesicht — umsonst; der unfaßbare Blick dieser Erscheinung zieht einen Vorhang bis über seine Wangen und den Hals, übrig bleibt das Gerüst ohne Kopf, ein Schleier statt des Kopfes. Der Knabe fürchtet sich, und nicht mehr vor Prügeln.

Der Mann hat aufgehört zu murmeln, er denkt: ‹Was sage ich?› Er fühlt: ‹Dies ist ein Kind. Es ist das Unerfüllte, Grenzenlose, es hat, so schwach es ist, mehr Macht und Gewalt als alle, die schon gelebt haben. Es verspricht Leben und ist daher groß. Es ist das allein Große. Welch ein tapferes Gesicht!› sieht er, als Henri grade am meisten Furcht hat.

«Er ist es!» spricht er laut und wendet sich zu Beauvois, der geduldig wartet. «Wenn Gott Ihnen die Gnade erweist, so lange zu leben, werden Sie als Herrn einen König von Frankreich und Navarra haben.»

Das ist alles, was er laut spricht — versucht nicht noch einmal, sich zu verbeugen, geht schon aus der Tür. Der Herr von Beauvois öffnet sie ihm.

«Ich danke Ihnen», sagte er. «Auf Wiedersehen, Herr Nostradamus.»

Henri aber fühlt: Das ist keiner von denen, die man wiedersieht. Grade darum wird er die Erscheinung im Gedächtnis bewahren.