Unter seinem Wams trug er die Briefe und wünschte sehr, sie alle wieder zu lesen, samt denen seiner kleinen Schwester. Aber er lebte völlig in diesem berittenen Haufen, unter der Sonne vergingen ihm die Tage, die Nächte unter den Sternen, und er war nie allein. Wochenlang ritten sie, die Landschaft war inzwischen nördlich verändert, daraus machte Henri sich jetzt nichts mehr. Unter den Hufen seines Pferdes bewegte sich sein Leben lang das ganze Königreich, denn es lag nicht still, während er ritt: es lebte, lief, nahm ihn mit. Er hatte das Gefühl einer Bewegung ohne Anfang und Ende, und nicht immer hielt er sie nur für seine eigene: das war der Ablauf des Königreichs, in dessen noch dunkle Geschicke er selbst eingehen sollte. So lagerte auch fernhin auf dem Wege die Nacht unter den Baumkronen und erwartete ihn.

«Agrippa, was erwartet uns eigentlich am Hof von Frankreich?»

«Eigentlich?» wiederholte d’Aubigné. «Nebenbei deine Hochzeit, die gewiß ein schönes Fest sein wird. Eigentlich aber, wenn du es denn wissen willst: alle Nöte der Heiligen.»

«Sagst du: alle, weil du nicht sagen könntest, welche?»

«So ist es, Henri. Auch du fühlst etwas, da in dieser Stunde um unsere Köpfe die Fledermäuse und die Leuchtkäfer fliegen. Bei Tageslicht ist es fort.»

Sie flüsterten dies, es war für sonst niemand bestimmt.

«Wir werden heute nacht in einem Dorf schlafen?»

«Chaunay, mein Prinz.»

«Chaunay in Poitou. Gut. Dort werde ich mich entscheiden.»

«Worüber?»

«Ob ich Weiterreise. Ich muß mich in der Stille mit mir beraten und muß ungestört die Briefe meiner Mutter, der Königin, nochmals lesen. Sorge dafür, daß ich endlich ein Zimmer für mich allein habe, Agrippa!»

Als sie aber dann vor dem Wirtshaus zu Chaunay an langen Tischen zwei Stunden lang getafelt hatten, stand dem Prinzen von Navarra der Sinn nicht mehr nach Einsamkeit, vielmehr hatte er einem Mädchen mit ganz und gar verlockenden Gliedern ein Zeichen gegeben, ihm voran die Treppe hinaufzugehen, oder vielmehr war es eine Leiter. Auf dieser Leiter nun hörte er im Näherkommen ein großes Geschrei, verursacht wurde es hauptsächlich von der Baßstimme eines gedrungenen Weibes: es zerrte eine andere, die in hohen Tönen jammerte, aus der Kammer und herab. Jemand stand unten und leuchtete ihnen mit einem Kerzenstumpf, das war Agrippa d’Aubigné. Die Lage zeigte, daß er die Mutter des Mädchens gerufen und seinen Freund Henri verraten hatte; aber anstatt sich zu schämen, lachte er sogar. Henri zog sofort vom Leder. «Du auch!» verlangte er voll Wut.

Was tut der Dichter Agrippa? Er reißt aus der Leiter eine Sprosse, als sollte sie seine Waffe sein. Davon schwankt die Leiter mit den beiden Frauen, diese springen aufheulend in die Tiefe und fallen auf die beiden Männer, die den Boden decken. Hier verschwinden alle anderen Sorgen hinter der einen, aus dem Gewühl hervorzukommen. Dies erreicht, findet Henri sich verlassen in der tiefsten Dunkelheit. Was ist aus den anderen geworden, wohin ist sogar die Leiter geraten? Er mußte noch froh sein, sich nach dem Ausgang zu tasten. In einem Gebüsch, durch das die Sterne blitzten, schlief er ein.

Er erwachte, es war die Frühe eines Junitages, des dreizehnten, den er nie vergessen sollte. Grade schwang sich singend eine Lerche vom Feld in das noch blasse Himmelsblau. Zu seinen Häupten duftete Flieder, unfern murmelte ein Bach, und eine Reihe zitternder Pappeln verschleierte ihm das Dorf. Die Frische des beginnenden Morgens stimmte ihn sorglos, er ging mit schnellen, leichten Schritten die Pappeln entlang, zwei-, dreimal, nur um zu atmen und sich zu freuen. Dann erinnerte er sich allerdings der Briefe, die er hatte lesen und überdenken wollen. Er blieb stehen, zog sie hervor und ließ sie durch die Finger gleiten wie ein Spiel Karten. Wozu lesen? Alles kam darauf hinaus, daß er die dicke Margot heiraten sollte, «Madame», wie seine kleine Schwester sie betitelte. Darüber waren die beiden Damen Katharina und Jeanne einmal gleicher Meinung, und alles übrige mußte sich finden: ob der Herr Admiral mit der alten Giftmischerin fertig wird, ob meine Eheliebste eine Papistin bleibt und in die Hölle kommt. ‹Höchst zweifelhaft›, dachte er. ‹Ich selbst war mehrmals katholisch und schon reif für das Höllenfeuer. Es kann vorkommen, man weiß nie. Soviel ist gewiß: niemals würde meine strenge, hugenottische Mutter sich einen so angenehmen Hof halten, wo die Frauen die Männer auffordern. Das schreibt sie, den Satz weiß ich auswendig.›

Da grade geschah es: da sah er sie vor sich — ganz anders als sonst das innere Auge sieht, unvergleichlich genauer erblickte er das Gesicht der Königin Jeanne in einem Raum, der aber nicht die grauende Luft war. Viel heller, furchtbar grell entstand in seinem Innern ein Licht, bei dem er seine Mutter als eine schon Verewigte erkannte. Das waren nicht mehr die zuletzt im Leben festgehaltenen Züge, als der große lederne Wagen davonfuhr und der Sohn zurückblieb neben seinem Reitpferd. Verfallene Wangen — und Schatten, herzzerreißend wie die Sehnsucht nach allem Verlorenen, umwoben sie, durchsichtig, als bedeckten sie ein Nichts. O große Augen, nicht mehr stolz, reizbar oder liebend, was ihr alles einst gewesen! — Ihr kennt mich wohl gar nicht mehr? — obwohl ihr zu vieles wißt, was wir hier noch nicht wissen!

Der Sohn ließ sich auf einen Grashügel fallen, erst soeben leichtherzig, auf einmal zu Tode erschreckt: nicht nur durch dies neue Gesicht der Mutter, am meisten davon, daß es ihm auch im Traum schon erschienen war, wie er sich jetzt besann. Vier Nächte mußte es her sein; er zählte, sann angstvoll, saß auf dem Hügel und mischte die Briefe. Als er aber zufällig näher hinsah, bemerkte er, daß zwei von ihnen heimlich geöffnet worden waren, bevor er selbst das Siegel zerrissen hatte. Vier Nächte her? Der Schnitt um das Siegel war eine feine Arbeit, und nachher das darauf gestopfte Wachs, das den Schaden ausbesserte. — Warum vor vier Nächten — und wieder eben jetzt?

Der letzte Satz im letzten Brief seiner Mutter hieß: «Jetzt, mein Sohn, mach Dich auf und reise!» Er sah: Die Königin Jeanne wollte Madame Catherine aus der Macht verdrängen, diese aber hatte ihren Brief gelesen. ‹Meine liebe Mutter ist in Lebensgefahr!› begriff er, war schon auf den Füßen, sprang durch die Pappeln. «D’Armagnac!» rief er. Denn er entdeckte seinen Diener früher als dieser ihn. «D’Armagnac, sofort in den Sattel! Ich habe keine Zeit zu verlieren.»

«Aber mein Herr!» erlaubte sich der Diener zu erwidern. «Niemand ist bisher aus dem Heu, und das Brot wird erst gebacken.»

Greifbare Tatsachen hatten die Gabe, Henri alsbald zu beruhigen. Er gab zu: «Wir brauchen ohnehin bis Paris noch fünf Tage. Ich will im Bach baden. D’Armagnac, bring mir ein frisches Hemd!»

«Grade heute wollte ich sie waschen. Hier, dachte ich, würden wir rasten.» Der Edelmann als Diener blinzelte seinem Herrn zu. «Besonders wegen der umgefallenen Leiter. Wir sollten sie wieder aufrichten und das Versäumte nachholen.»

«Schurke!» rief Henri ehrlich entrüstet. «Ich wälz mich gerad genug im Stroh.» Schroff befahl er: «Der ganze Troß soll gesattelt haben, wenn ich vom Baden komme.» Damit lief er und riß schon die Kleider ab. Sie brachen nachher auch auf; aber kaum eine Viertelstunde, da sprengte ihnen ein Bote entgegen, warf sich vom Pferd, schwankte so sehr, daß jemand ihm den Rücken stützte, und brachte röchelnd hervor: «Von Paris — vier Tage geritten anstatt fünf.» Sein Gesicht war weiß und rot gesprenkelt, er ließ die Zunge hängen, und ein noch sonderbareres Zeichen, aus seinen offenen und verstörten Augen fielen große Tropfen. Hörbar schlugen sie auf sein Koller, so still war es um den Boten geworden.

Henri streckte vom Pferd herunter die Hand aus, er nahm den hingehaltenen Brief, dachte aber nicht daran, ihn zu öffnen, vielmehr ließ er den Arm sinken, auch den Kopf neigte er und sprach in der großen Stille des weiten Landes und des darin verlorenen Häufleins Menschen, sprach leise: «Meine liebe Mutter ist tot. Vier Tage.» Das war nur für ihn selbst, wie die anderen wohl fühlten. Sie wollten es nicht gehört haben, bis er es ihnen laut sagte: dieses Zartsinnes erinnerten sich auch die Rohen. Als der neue König von Navarra die Botschaft dann gelesen hatte, nahm er den Hut ab; sofort taten es alle; und er sagte ihnen: «Die Königin, meine Mutter, ist gestorben.»

Einige sahen einander an, mehr wagten sie noch nicht. Das Ereignis erschien ihnen nicht wie andere, die man hinnimmt; es veränderte Unabsehbares und machte aus ihnen selbst, sie wußten noch nicht, was. Jeanne d’Albret war zu viel gewesen, als daß sie hätte sterben dürfen. Sie hatte sie geführt und erhalten, sie hatte ihnen zu dem Brot verholfen, das auf den Ackern wächst, und zum Brot des ewigen Lebens. Unsere Freiheiten, Jeanne d’Albret hat sie für uns durchgesetzt! Unsere festen Plätze, La Rochelle am Meer, sie hat es uns errungen! Unsere Bethäuser am Rande der Städte, sie hat sie ertrotzt! Der Friede unserer Provinzen, unsere Frauen im Schutze Gottes das Feld bestellend, während wir reiten und uns schlagen für die Religion: das alles war Jeanne d’Albret, und was wird daraus jetzt!

Hier gingen ihre Gedanken in Entsetzen über, verwandelten sich in Empörung und griffen stürmisch nach dem Verdacht einer Schuld und eines Verbrechens. Denn ein so großes Unglück kann nicht von selbst eintreten. Diese Tote war den Mächtigen im Wege gewesen, kein Zweifel, wem. Der verlorene Haufe verstand sich wortlos, nur durch Gedanken und Gefühl. Die ungefügen Laute, die er ausstieß wie ein Träumender, wurden erst langsam stärker, sie mußten anschwellen zum Grollen und Drohen; da fuhr endlich das bewußte Wort aus der Scheide, als ob jemand es gemeldet hätte, ein zweiter Bote, unsichtbar dieser: «Die Königin ist vergiftet!»

Alle durcheinander wiederholten es, jeder einzeln sprach es dem unsichtbaren Boten nach: «Vergiftet! Die Königin ist vergiftet!» Der Sohn der Toten tat mit, wie sie; ihm war es gemeldet, wie allen.

Plötzlich geschah etwas Neues: sie reichten einander die Hände. Das war, ohne Verabredung, ein Schwur, Jeanne d’Albret zu rächen. Ihr Sohn ergriff die Hand seiner Freunde, Du Bartas, Mornay und d’Aubigné. Mit Agrippa verständigte er sich durch einen besonderen Druck der Finger, der hieß: gestern die umgestürzte Leiter, das Gewühl unter den Weibern, heute aber dies. Was gäbe es zwischen uns zu verübeln, zu bereuen. Das ist das Leben, und wir verbringen es Hand in Hand! Auch seinen Diener d’Armagnac, den er vorhin hart angefahren hatte, faßte Henri bei der Hand. Indes erhob sich eine Stimme:

«O Gott, so zeige Dich doch nur!»

So sang, zuerst ganz allein, Philipp Du Plessis-Mornay, denn er war vor ihnen am ehesten zum Äußersten geneigt: in ihm wohnte die unruhigste Tugend. Da er aber die erste Zeile wiederholte, schlossen mehrere andere Stimmen sich an, und bei der zweiten waren es alle. Sie waren von ihren Tieren abgesessen, hatten die Hände zusammengelegt und sangen, ein Haufe, den niemand ansah als vielleicht Gott, zu ihm hinauf: sangen, als ob sie Sturm läuteten, hinauf!

«O Gott, so zeige Dich doch nur,
Und plötzlich wird sich keine Spur
Vom Feind mehr blicken lassen.
Wenn er denn ab sein Lager bricht,
Vergehn vor Deinem Angesicht
Sie alle, die uns hassen.»