Sogleich erwachte sie auch, sogleich auch bedeckte sie sich und war schon unterwegs zu ihrer Mutter. Die Königin von Navarra hatte Wache mitgenommen, um den Eintritt, wenn es sein müßte, zu erzwingen. Indessen wurde sie ohne Umstände durchgelassen und sah wohl, warum. Ihr Bruder Karl der Neunte befand sich bei Madame Catherine, und zwar in hellem Zorn. Er schwur und fluchte, nur er allein sei der König und werde befehlen, nicht aber Verschwörer, die in unterirdischen Verstecken zusammenkämen.
Sein Gebrüll belästigte Madame Catherine, die zu denken hatte. Außerdem fürchtete sie für ihre Sicherheit: ihre Tochter, wenn sonst niemand, war imstande, es ihrer maskenhaften Miene anzusehen. Bereitwillig begrüßte die Mutter das liebe Mädchen und wies ihm den gewohnten Hocker an. Was Margot übrigens war, sie blieb ein Mutterkind und hockte am liebsten nahe beim Rock der Alten, um, beide Hände in die Haare gewühlt, große Lederbände zu lesen, davon drückten immer gleich mehrere ihre Knie. Gemäß der Gewohnheit nahm sie die Bücher vom Tisch, blätterte wohl auch mit den Fingern, während aber ihre Augen darüber hinweg und vom einen zum andern gingen.
Karl der Neunte wurde inzwischen betroffen von der dunklen Tatsache, daß sein unzusammenhängender Lärm nichts ausrichtete gegen die alte Frau, die ihm nur zusah. Er beschloß, furchtbarer und genauer zu sein. Er streckte den Hals weit vor, sein rötlicher Schnurrbart hing herab, und auch die Hände ließ er schaukeln, aber es waren Fäuste. So prüfte er aus den Augenwinkeln, wie gefährlich seine Mutter ihm noch werden konnte.
«Hast du gut geschlafen, Mutter?»
«Dein Fest verlief geräuschvoll, mein Sohn.»
«Trotzdem warst du schon früh wieder auf und mit dir einige andere, besonders mein Bruder d’Anjou. Ich bin unterrichtet. Eure Pläne sind gegen mich — sind staatsgefährlich, sonst wäre ihr Schauplatz nicht ein Ort, in den man hinabsieht wie in die Unterwelt.»
«Das scheint nur so, mein Sohn, wenn man auf einer Leiter steht.»
«Du leugnest nicht, Mutter, und tust gut daran; denn die Person, die euch überrascht hat, wäre bereit, alles nochmals zu berichten in deiner Gegenwart.»
«Ich glaube es nicht.»
Der Sohn hörte: Du bist ein Narr. Die Tochter begriff: Sie lebt nicht mehr. Einen Augenblick neigte Margot sich in ihr Buch, indessen Karl einen Anfall bekam. Er werde seinen Bruder d’Anjou verhaften lassen, so schrie er. Die eigene Mutter trachte ihm nach dem Leben und wolle den anderen auf den Thron erheben. «Ich aber hole meine Protestanten zu Hilfe. Ich werde nur noch regieren mit dem Herrn Admiral Coligny!» rief er knabenhaft, bei eigenem Grauen vor so viel Kühnheit. Die Wirkung entsprach denn auch den schlimmsten Befürchtungen: seine Mutter weinte. Madame Catherine wandte Steigerungen an. Zuerst stieß sie mit den kurzen Armen um sich. Langsam verwandelte ihr großes, schweres Gesicht sich in das unschuldige eines kleinen, verzweifelten Mädchens. Hierauf bedeckte sie es mit den Fingerchen, zwischen denen sie aber hindurchspähte, und dabei winselte sie. Immer höher und schriller winselte sie, ohne daß über die Fingerchen der kleinste Wassertropfen rann.
Madame Catherine konnte alles anschaulich machen, nur Tränen nicht. Karl bemerkte, was ihr gelang. Das andere sah Margot.
Unter Schluchzen brachte die alte Frau hervor:
«Erlauben Sie mir, Sire, daß ich mich in mein Heimatland zurückziehe! Längst zittere ich für mein Leben. Ihr Vertrauen gehört meinen geschworenen Feinden.»
Hierüber mußte er erschrecken, wie sie hoffte, und er erschrak auch. Er wollte ja nur wissen, was heute morgen beschlossen worden wäre, stammelte er hilflos.
«Das Heil Ihres Königreichs», sagte sie: sagte es mit völlig trockener Stimme und einer so fest sitzenden Maske wie je vorher. Man konnte bezweifeln, daß die Szene des Weinens stattgefunden hatte. Ihre Rede erhob sich strafend.
«Und das mußte ohne Sie beschlossen werden. Denn es fordert Handlungen, ungemein, der großen Herrscher würdig, dir aber nicht angemessen, mein armer Sohn» — dies strafend, als gewaltiger Umschwung nach dem Schauspiel der Demut. Madame Catherine saß da, bekleidet mit einer höheren Gewalt, als wenn sie niemals gebeten hätte, nach Florenz abreisen zu dürfen — wo man sie einst hinausgeworfen hatte.
Karl sah auf seine Füße, während in seinem Kopf zu vieles auf einmal irrte, schweifte und sich kreuzte: alle Andeutungen seiner Mutter aus Tagen, die noch keineswegs diese äußersten gewesen waren; damals hatte er die blutigen Vorsätze zugelassen, als wären sie nur ein Alb. Sogar seine Mutter hatte sich ihnen anfangs nicht anders hingegeben als einer angespannten Übung ihres Geistes über Abgründen. Dennoch erinnerte Karl sich sehr genau der Namen Amaury und Ligneroles, zwei Opfer seiner Furcht — schon bei geringerer Gefahr. Inzwischen hatte er sich, als Beweis seiner Selbständigkeit, mit dem Hugenotten Coligny eingelassen, hatte ihn seinen Vater genannt und in allem seinen Rat befolgt. Er war daher an der Schwelle des Krieges mit Spanien. Haus Österreich zog enger die langen Fangarme um ihn und sein vereinzeltes Land; es hatte den Süden, hatte die Mitte der Alten Welt; es verfügte über die Neue und ihr Gold, beherrschte die Kirche, durch sie aber alle Völker, auch seins; und in sein eigenes Schloß und Bett hatte es sich gelegt unter dem Namen einer Erzherzogin, vom Gold und der Macht so starr, daß sie nicht umfallen konnte!
‹Was nun?› dachte Karl der Neunte verzweifelt, während er seine Füße ansah. ‹Sie gehen damit um, zu töten, alle denken nur ans Töten, aber die Guise und auch meine Mutter wollen Franzosen morden, wollen mir meine Untertanen ausrotten. Der Herr Admiral will Spanier töten: das ist mir lieber. Kommt er dann siegreich zurück, muß ich allerdings auch ihn fürchten, er wird der Stärkste geworden sein. Bis jetzt sind die Guise stärker als er und ich. Meine Mutter ist dafür, daß zuerst die Guise herfallen sollen über die von der Religion. Ich soll mich inzwischen still im Louvre halten und abwarten. Meine frische Truppe stürzt sich auf die Partei, die übrigbleibt, und schickt die Führer noch warm ins Jenseits.›
Fragend blickte er auf, was von dem allem zu halten wäre. Seine Mutter nickte ihm ermutigend zu. Er war oft genug von ihr belehrt worden und verstand sie — bis zu einer gewissen Stelle: dort nicht mehr. Dort wurde sie rätselhaft und er schwach. Vielleicht würde er sie erraten haben: den ersten, entscheidenden Punkt ihres Planes — hätte nicht etwas ihn aufgehalten, ein Widerstand seines Denkens. ‹In dem Keller heute morgen›, so erkannte Karl, ‹haben sie das Ruchloseste erst beschlossen. Ich war nicht dabei und bekomm’s nicht heraus. Es macht mir kalt und eng im Magen; wer hilft mir?›
Kaum gedacht, trat seine Schwester vor und griff ein.
«Ich verbiete, daß ein Mord geschieht», sagte sie mit vollem Klang.
Madame Catherine behielt einige Zeit den Mund offen. Was war dem Kind? «Du? Verbietest?» fragte Madame Catherine, jedes einzeln. Auch Karl ließ erstaunt ein Wort heraus. «Du?»
«Ich!» bestätigte Margot unbeirrt. «Und durch mich ein anderer.» Das war Gott, das Marmorbild mit roten Lippen.
‹Navarra droht!› so dachte Madame Catherine. ‹Um so schneller muß ich handeln.›
«Wer könnte dem König von Frankreich etwas zu verbieten haben», sagte sie höchst befremdet.
Die Prinzessin antwortete nicht, sie zeigte ein verwöhntes Gesicht.
Karl fragte: «Auch ich möchte wissen, wer hier befiehlt?» Es war eine falsche Frage, entgegen seinem eigenen Nutzen, aber seine Neugier wog vor. Meinte doch auch seine Mutter noch immer, sie habe nicht recht gehört. ‹Das artige Mädchen! Hockt mit Büchern oder liegt bei Jungen. Allerdings schon wegen des Guise hatten wir Schwierigkeiten. Braucht sie am Ende wieder eine Tracht?›
«Wenn du dich nicht erklärst» — Madame Catherine blieb vorerst noch nachsichtig, «wie soll man dich verstehn.»
«Du verstehst mich. Keinen Mord!»
«Wer spricht von Mord? Die Parteien, wir müssen leider täglich gewärtigen, daß sie übereinander herfallen: die Katholiken deines Guise, die Hugenotten deines Navarra. Es tut mir leid, Töchterchen, deinetwegen, da du dich gewiß überzeugt hast, daß jeder von beiden seine Vorzüge aufweist. Sag nur, wie wir’s verhindern wollen!»
Auch dieser schrecklichen Gutmütigkeit setzte Margot wieder ihren Befehl, den im Traum empfangenen, entgegen: Keinen Mord! Sie hatte weit offene Augen und blickte durch ihre fahle Mutter hindurch in das Angesicht Gottes, tief rotes Blut floß in seine Lippen.
«Wir sollen keinen Mord begehen: dann schlagen auch die Parteien nicht los. Das Zeichen geben nur wir.»
«Wir», wiederholte Madame Catherine, aber ungehalten diesmal, und innen wurde ihr schwül. Diese Gelehrte mit dem großen Verbrauch von Bettzeug hatte besser aufgepaßt, als zu vermuten war, wenn sie harmlos an den Röcken der Mutter hing. Zu allem Überfluß bestätigte sie es selbst.
«Ich bin nicht dumm, Mutter. Ich höre manche Worte, die ihren wahren Sinn erst in der Zukunft bekommen sollen. Meinem Bruder, dem König, sagen Sie solche, die er selbst noch nicht versteht. Ich aber hatte gelernt: ich kann die Sprache der Vögel» — setzte sie hinzu, wie durch Eingebung. Es war aber eine Erinnerung an die zahllosen Statuen ihres Traumes, die deutlich zu ihr gesprochen hatten, obwohl sie nur kreischten wie die kleinsten Vögel «von den Inseln».
«Was meinst du, mein Sohn? Sollten wir es nicht noch einmal versuchen mit der kleinen Belehrung, die deiner Schwester so gutgetan hat? Sie erinnern sich, Sire, jenes Morgens, als Ihre dicke Margot etwas zu lange geschlafen hatte mit dem Guise.» Die stumpfen Augen hinter der Maske versuchten ein heimliches Gefunkel.
Ihm stand der Sinn nicht danach, seine dicke Margot zu prügeln. Inzwischen hatte in seinem Verstand sich dies und das gereimt; der Widerstand seines Denkens ließ nach. Er rief:
«Sie hat recht, zu verbieten, daß ein Mord geschieht! Ich verbiete es auch!»
«Geht!» Kalt und hart wies Madame Catherine ihnen beiden die Tür — vor der heute nicht einmal Wachen standen. Sie hatte daher das Schlimmste zu fürchten, und ihre wohlbewahrte Ruhe war überaus verdienstvoll. Dieser Nachkomme barbarischer Ritter konnte sie einfach gefangensetzen, ihr Sohn d’Anjou, so viel mehr ihr eigen, stand ihr dann nicht mehr bei, denn was geschehen ist, ist geschehn. In diesem allzu wißbegierigen Mädchen aber entdeckte sie zuerst Gefahren. Sie blieb beherrscht.
«Geht.» Nur leider, sie gingen nicht.
«Der Admiral Coligny soll am Leben bleiben!»
«Der König von Navarra soll am Leben bleiben!»
Sie riefen es gleichzeitig, die beiden Namen schlugen aneinander, jeder verdrängte jeden. Die Alte zuckte dann auch die Achseln.
«Da seht ihr’s: ihr seid euch nicht einig.»
«Ich will dasselbe wie meine dicke Margot.»
«Mein Bruder, der König, wird mir helfen.»
Demnach hatte sie es mit Verbündeten zu tun. Sobald aber Madame Catherine nicht mehr die Stärkere war, pflegte sie zur List überzugehen.
«Wir wollen einen Vertrag machen, liebe Kinder. Ihr habt zwei Personen genannt. Keiner von beiden wünsche ich etwas Übles. Keinen Finger werde ich erheben, damit eine von ihnen fällt. Sollte aber dennoch eine der beiden Personen fallen, dann, geliebte Kinder, dürft ihr nicht verlangen, daß ich die andere noch schütze. Es ginge über mein Vermögen», setzte sie hinzu, eher kläglich — denn ihre Tochter wuchs. Die Königin von Navarra wurde groß von Gestalt, vermöge Wissens und Willens.
«Ich verstehe die Sprache der Vögel», sagte sie auf die arme Alte hinunter. «Die zwiespältige Zunge Eurer Majestät meint, daß Sie zuerst den Herrn Admiral wollen töten lassen, dann aber auch den König von Navarra, meinen Mann.»
«Kann man so reden!»
«Sie hat es heraus!» rief Karl erleuchtet. «Meine dicke Margot ist klug und weiß alles. Der Herr Admiral soll aber am Leben bleiben. Ich befehl es. Er ist mein Vater.»
«Kann man so reden!» wiederholte die Alte, verließ den beschwerlich nachhinkenden Sohn und hielt sich an die ungleich schnellere Tochter.
«Bedenke selbst, ob irgend jemand hier noch gebieten könnte — dem Haß der Parteien, der Leidenschaft der Menschen, einander zu töten.»
«Nicht den König, meinen Mann!»
«Ich könnte es so wenig wie du. Sie wollen Blut haben. Niemand weiß im voraus, womit es anfängt.»
«Du weißt es.»
«Du weißt es!» brüllte Karl.
Die Alte war zusammengezuckt; jetzt wurde sie traurig, edel traurig, kein ungeordnetes Gewinsel, die Haltung derer, die schwer trägt an vielem, das verantwortet werden muß.
«Hinter meiner Stirn», begann sie und bohrte den Zeigefinger in ihre Schläfe, «steht aufgerichtet Haus Valois. Nicht hinter eurer. Ihr seid jung und folgt euren Begierden. Ich halte allein mit meinem Gehirn die große Last, sonst fiele sie, ihr alle und das Haus.»
Es war ihr wahrster Augenblick; auch versagte er nicht. Die alte Frau wußte diesmal selbst nicht recht, warum die beiden Verbündeten hierauf ganz still blieben. Das verwirrte sie etwas, und infolge aussetzender Berechnung machte sie gleich nachher einen Fehler.
«Du hast dich verliebt, aber du bist meine Tochter. Wir wissen doch, was von unseren Stürmen zuletzt jedesmal übrig ist: wir selbst. Der kleine Navarra tut, wie jeder deiner Männchen, sein Bestes. Eines Morgens wird er auf deinem Lager keinen Eindruck mehr lassen. Das erstemal fragst du: Wo ist denn der junge? Zum zweitenmal fragst du. Aber zum dritten fragst du nicht mehr und willst nicht so genau wissen, wie er verlorenging.» Sie hatte umsonst geredet.
Margot mit der Stimme Gottes:
«Du sollst nicht töten!»
«Das wäre das Neueste», murmelte Madame Catherine, heraufschielend.
«Oder ich werde Protestantin.»
«Oder sie wird Protestantin», brüllte Karl, und die bedrängte Mutter mußte feststellen, daß ihre Kinder einander bei den Händen gefaßt hatten.
«Ich verlange das Leben des Königs von Navarra.»
«Ich verlange das Leben des Admirals Coligny.»
«Bleib mir mit deinem zähen alten Streithahn, der das Königreich zugrunde richtet, du aber nennst ihn Vater.» Sie entschied sich dafür, den einen dadurch vor die Tür zu setzen, daß sie mit der anderen ihren Frieden machte.
«Gut. Du reisest mit deinem Navarra nach England. Die Hilfe der Engländerin fließt spärlich; aber wir brauchen Elisabeth und ihr Geld, da dein Bruder Karl mit seinem Vater Coligny uns Haus Österreich auf den Hals hetzt. Reist, wann ihr wollt!»
Nur noch eine entlassende Bewegung deutete sie an; die Sprache versagte ihr — ob sie es nun künstlich so anstellte oder sich wirklich ausgegeben hatte.
Sofort kehrte die Tochter zurück zu ihrer lebenslangen Unterordnung, beugte den Nacken und ein Knie, ging gehorsam ab.
Karl der Neunte folge. Da er die andere Sache ganz überraschend gewonnen sah, vergaß er seine eigene — in dem Augenblick, der über sie entschied.